Ab dem 1. November 2024 bin ich kein Mitglied der Partei DIE LINKE mehr. Den Austritt habe ich gegenüber der Partei begründet:
Erklärung zum Austritt aus DIE LINKE
Nach mehr als 25 Jahren Mitgliedschaft in der Partei, der ich persönlich viel zu verdanken habe und in der ich vielen Mitstreiterinnen und Mitstreiter auch freundschaftlich verbunden bin und bleibe, wurde mit den jüngsten Beschlüssen auf dem Berliner Landesparteitag, auf dem Parteitag der Bundespartei sowie meines Berliner Landesvorstandes, am Ende eines bereits länger andauernden politischen Entfremdungsprozesses, ein persönlicher Kipppunkt überschritten.
Ich will diesen Schritt in aller gebotenen Kürze zu erklären versuchen, dabei aber niemand ermuntern, es mir gleich zu tun.
(1) Der jüngste Bundesparteitag hat mit Blick auf die kommenden Bundestagswahlen Entscheidungen für die kommenden elf Monate getroffen, mit denen das parlamentarische Überleben der Partei gesichert werden soll. Eingefordert ist „Geschlossenheit“, weil, zurecht, erkannt worden ist, dass ein sichtbares Ende der „Streitereien“, die dank Wagenknecht, Bundestagsfraktion und mangelnder Streitkultur das Image der Partei prägten, Voraussetzung dafür ist, um im Herbst 2025 überhaupt Aussicht auf Erfolg haben zu können. Geschlossenheit, ohne dass die seit langem schwelenden Fragen und Unterschiede diskutiert und geklärt worden seien. Was machen in einer solchen Situation diejenigen Genossen und Genossinnen, die einerseits kein Interesse haben dazu beizutragen, die Partei zu zerstören oder in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwinden zu lassen, und die andererseits der Überzeugung sind, dass die Partei sich auf einen falschen Weg begeben hat, für den man weitere Lebenszeit nicht investieren sollte? Der Geschlossenheit zum Trotz für die eigene Auffassung, für andere Mehrheiten streiten? Passives zahlendes Mitglied bleiben? Am Trugbild einer „pluralen Linken“, also welche sich die Partei ja seit 2007 verstand, festhalten und abwarten? Worauf?
Zwei Dinge vor allem sind mir wichtig, die Vorstellung von einer linken Partei und die inhaltlich-strategische Orientierung in einer tiefen gesellschaftlichen Umbruchphase:
(2) Für falsch halte ich den seit Jahren angetretenen organisationspolitischen Weg, der in Halle und mit der Wahl der neuen Parteivorsitzenden bestätigt wurde: weg von einer sozialistischen Gestaltungspartei hin zu einer vor allem außerparlamentarisch sich verortenden, aktivistisch an „Bewegungen“ orientierten Organisation, Sammlungsbewegung, die in hohem Maß auf in der Tendenz antiparlamentarische Symbolpolitik setzt. Eine Partei, die verändern will und dafür sich in Parlamente wählen lässt, muss die parlamentarische Arbeit ernst nehmen, alles andere wäre Betrug an der Wählerin. Wichtiger als „Aktivismus“ und „Haustürgespräche“ wäre für die Zukunft der Parteiorganisation in meinen Augen, die Mitglieder zu ermuntern, verstärkt in der lokalen, kommunalen Arbeit sich zu engagieren, einen gemeinsamen Alltag mit den Menschen, die man vertreten will, herzustellen, in Nachbarschaften, Vereinen, Kleingärten, freiwilligen Feuerwehren usw. – dort wo man „die Politik“ erklären, aber auch Zugänge zum Welt der Politik ermöglichen kann. Also das versuchen wieder herzustellen, was „Kümmererpartei“ immer ausgezeichnet hat, was weit mehr ist als Sozialberatung plus Haustürbesuch. Mit einer solchen Orientierung wäre es meines Erachtens eher möglich, eine organisationelle Basis der Partei aufzubauen, die ein stückweit unabhängig macht vom Haschen um mediale Aufmerksamkeit und von Umfragetrends, weil man eben über das Alltagsbewusstsein derjenigen, die einen wählen könnten und sollten, unmittelbar etwas weiß – und etwas ändern könnte. Ein solches Verständnis von Mitgliederpartei ist über die Jahre hinweg entschwunden, nun scheint es mir gänzlich verloren.
(3) Inhaltlich-strategisch für falsch halte ich die wahlstrategische Zuspitzung auf fast nur sozialpolitisch motivierte (Einkommens-)Verteilungspolitik. (Warum ich das für unzureichend halte, habe ich im Frühjahr hier aufgeschrieben: www.horstkahrs.de, ich will es hier nicht wiederholen.) Den Ansprüchen, die an linke, emanzipatorische Politik in den kommenden Jahren zu richten sind, werden wir damit nicht gerecht, und die Arbeit an der seit 2019 immer wieder beschworenen strategischen und programmatischen Erneuerung der Partei wird weiter blockiert. Das seit 2021 drängende Umsetzungs- und Durchsetzungsproblem linker Forderungen und Politik bleibt unbearbeitet (ebenso wie eine Reihe anderer Fragen, die Bürgerinnen und Bürger, die Linke wählen könnten, beschäftigen). Stattdessen flüchtet man eher symbolisch und zugleich begriffslos zu „Klasse“ und „Klassenpolitik“ (und es ist nicht erkennbar, wie diese Art Anrufung von „Klasse“ das Bedürfnis nach Zugehörigkeit befriedigen und gegen „Nation“ gewinnen kann).
Reicht das, um die Partei zu verlassen? Wahrscheinlich auch politisch betrachtet schon, weil Weichen gestellt sind, weil der Wahl-Zug ins Rollen gekommen ist, weil nötige Debatten über Inhalte und Umsetzungsstrategien immer noch in Schubladen abgelegt werden, bevor sie richtig begonnen wurden. Es kommt indes etwas Biographisches hinzu.
(4) Mein persönlicher, wenn man so will: emotionaler Kipppunkt allerdings waren die jüngsten Beschlüsse zum „Antisemitismus-Streit“ in der Partei. Aus Anträgen, die sich mit dem Antisemitismus in Berlin bzw. Deutschland und potentiell in der eigenen Partei beschäftigen wollten, wurden Texte, die glaubten, sich erst einmal mit der Hamas, dem Staat Israel und – wo mal differenziert wurde – mit seiner aktuellen Regierung, gar der vermeintlich ganzen Geschichte des Nahost-Konflikts beschäftigen zu müssen. Wo en passant auch die Institution „Rechtsstaat“ gestrichen wird. Zu alldem ist schon vieles gesagt und geschrieben worden, was ich hier nicht wiederholen will.
[Gegen bemühte Missinterpretationen eine Klammerbemerkung. (5) Wichtig zu betonen: Weder mit der Hamas noch mit aktuellen Netanyahu-Regierung ist eine friedliche Lösung, ein zukünftiges friedliches Zusammenleben der Menschen im Nahen Osten vorstellbar, möglich. Wenn wir als Linke an der Zuversicht festhalten wollen, dass Menschen auch im Nahen Osten nicht nur unter wechselseitigem Gewaltverzicht, sondern auch gemeinsam zusammenleben können, dann dürfen wir uns nicht undifferenziert auf die Seite einer aktuellen Kriegspartei stellen, dann ist in unserer Welt Empathie für die Menschen auf beiden Seiten, dann hat diese Welt ziemlich viele Grautöne und Raum zwischen den Stühlen.]
(6) Entscheidend, glasklar muss sein, was ich zur gemeinsame Wertebasis in unserer Partei gezählt habe: Es gibt kein Aufweichen der sogenannten deutschen „Staatsräson“ (besser wäre: Räson des Zusammenlebens im deutschen Staatsgebilde, in der deutschen Gesellschaft). Ja, dabei geht aus auch (!) um das Existenzrecht Israels, aber eben nicht nur: zumindest für uns als Antifaschisten umfasst sie diese Räson einen kategorischen Imperativ, der sowohl Staat wie Bürgerinnen und Bürger verpflichtet: Nie wieder sollen in Deutschland Zustände herrschen, in denen Jüdinnen und Juden auf unseren Straßen, in unseren U-Bahnen, in unseren Läden, Schulen und Universitäten Angst haben müssen vor Einschüchterung und Übergriffen. Nie also dürfen Linke in Wort und Tat dazu beitragen, dass sich Jüdinnen und Juden wieder mit ihren religiösen Symbolen nicht in die Öffentlichkeit trauen – wobei zunächst eben erst mal entscheidet, was empfangen, was wahrgenommen wird. Und daraus folgt auch: unsere bedingungslose Solidarität mit Genossinnen und Genossen steht eben doch in Frage, wo sie diesem Anspruch nicht gerecht werden.
(7) Mir scheint, diese wenigen Sätze wären eine notwendige, einfache und allgemein verständliche Klarstellung gewesen, wofür die Partei steht und was eben nicht geht. Eine Klarstellung, die allen mühsam erarbeiteten Floskeln etwas Leben eingehaucht hätte. Eine Klarstellung, die deutlich macht, wo wir eine Grenze ziehen. Und: Es wäre im Sinne eines linken Menschenbildes gewesen, diese Klarstellung zu ergänzen, um einen Aufruf zur praktischen Solidarität – gar auch aktiven Unterstützung – mit allen jüdischen und palästinensischen Bürgerinnen und Bürgern in unserer Stadt, in unserem Land, die sich gemeinsam in Gesprächen, in israelisch-palästinensischen Initiativen, Vereinen, Einrichtungen – weiterhin und trotz alledem – um wechselseitigem Verstehen, Verständigung und eine gemeinsame friedliche Zukunft bemühen.