Über die undemokratische Rede von den »Menschen draußen im Lande«
»Die konkrete Politik bestimmt also ein Verhalten der Unterstützung oder der Aversion der Demokratie gegenüber – danach muss sie beurteilt werden.« formulierte der italienische Autor und Philosoph Paolo Flores d’Arcais bereits 1989 in seinem Essay »Demokratie ernst genommen«. Zur konkreten Politik gehört, weil Politik in Friedenszeiten wesentlich ein Kampf um und mit Sprache ist, wie Politiker und Parteien über das Verhältnis von Politik und Demokratie sprechen. Parteien sind ein wesentliches Instrument demokratischer Willensbildung und Repräsentation. Der Niedergang der demokratischen Partizipation – nicht nur bei Wahlen – steht in einem Zusammenhang mit der Entleerung der demokratischen Idee auch durch die Parteien, die Politik usurpierten und zunehmend selbstreferentiell gestalten. Schlagend drückt sich diese schleichende Selbstermächtigung der Gewählten in der Anrede des demokratischen Souveräns, des Bürgers aus. Wurde man in den 1970er noch als „Liebe Bürgerin, lieber Bürger“ angesprochen, wenig später dann gerne als als „Mitbürger_in“, so entstand im Zuge der geistig-moralischen Wende, von Helmut Kohl lizensiert, die Rede von »den Menschen draußen im Lande«. (Ähnlich wurde in vielen Ämtern der »Bürger« zum »Kunden«.)
Diese Ansprache begann in den 1990er Jahren ihren Siegeszug durch das Phrasen-Repertoire aller Parlaments-Parteien, jüngst hat sie Angela Merkel wieder benutzt: »Die »beste Antwort«, die man den bisherigen Wählern der AfD geben könnte, sagte Merkel, sei »eine erfolgreiche Regierungsarbeit für die Menschen im Lande, …«. (FAZ 215, 16.09.2014, S. 3)
(Arbeit für die) »Menschen draußen im Lande« hält den demokratischen Souverän sprachlich auf maximale Distanz zu seinen – ja, doch: von ihm gewählten – Repräsentanten. Es spiegelt sich die die Erhebung der »Politiker hier drinnen« gegenüber dem Souverän weiot weg, draußen. Entsprechend machen die Parteien »Angebote«, statt wie es mal gedacht war, gesellschaftliche Anliegen und Interessen zu politischen Forderungen zu verdichten; wenn sie gewählt worden sind, haben sie zu »liefern«. Parteien und Politik als »Lieferservice« – diese Bilderwelt stammt, wohlgemerkt, nicht aus dem Boulevard oder dem apolitischen Ressentiment, sondern aus der Mitte des politischen Betriebs.
Es sollte nicht verwundern, wenn der Bürger und die Bürgerin sich gegen diese Zurückweisung in den Status von Kunden, die aus einem Angebot wählen und die Freihaus-Lieferung abwarten sollen, nicht mehr anders zu wehren wissen, als durch Verlassen des Spielfeldes. Die Sprache der Parteien ist hier keine demokratische mehr, sondern eher eine ökonomische, die Unterschiede zwischen Politik und Okonomie werden auch sprachlich eingeebnet. In der Ökonomie nun gilt die Nutzenmaximierung. Warum also nicht auch an Wahlen, Parteien, Politik die Frage nach dem individuellen Nutzen als Meßlatte des eigenen Verhaltens anlegen, also am Ende nach dem Nutzen von Demokratie und politischer Freiheit fragen? Also sich selbst als das begreifen, als was man zuvor angesprochen wurde: als »Mensch« »draußen im Lande«, für den etwas getan werden müsste, der dann auch schon mal zurückfragt: Warum tut ihr da drinnen nichts für mich? Die Wandlung des Bürgers und der Bürgerin vom demokratischen Souverän zum (schutz-) bedürftigen Untertan und Bewohner eines imaginären Stimmen-Marktes ist vollzogen.
Nochmals Paolo Flores d’Arcais aus dem Jahre 1989:
»Nicht mehr Repräsentanten miteinander streitender Interessen, sondern in erster Linie Besitzer eines eigenen, für alle gleichen Interesses (die eigene Reproduktion und Ausdehnung), gleichen sich die Parteien immer mehr, nur die Konkurrenz bei der Verteilung des Kuchens kann vergiftete Töne hervorbringen. Dies Phänomen bedroht das Herz der formalen Demokratie, die Möglichkeit, zwischen wirklich kontrastierenden, wirklich alternativen Angeboten zu wählen. Immer häufiger kann sich der Bürger nur noch mit der Wahl zwischen einer Nachtmütze und einer Mütze für die Nacht die Zeit vertreiben. Kein Wunder, dass die Partei der Nichtwähler jeden Tag neue Liebhaber der Resignation rekrutiert. … Nicht zu wählen ist ein Indiz für verweigerte Demokratie.«
Da Demokratie nicht gewährt, sondern nur gelebt werden kann, verweist das Indiz auf beidseitige Verweigerung.
(Der zitierte Aufsatz ist abgedruckt in: Paolo Flores d’Arcais: Die Linke und das Individuum. Ein politisches Pamphlet, Berlin (Wagenbach) 1997 (2. Aufl. 2009)